Text: Günther Baumann
»Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte [den Diener], was das bedeutete. Er wusste nichts und hatte nichts gehört.«
(Franz Kafka, aus: Der Aufbruch)
Die Welt, die uns Anna Maria Schönrock vor Augen führt, lebt aus dem Geheimnis heraus. Es zu ergründen, verführt uns zwar zu anekdotischen Quellgründen, deren Ursprünge bleiben jedoch rätselhaft: Reiter, Porträts, Tierbilder, Waldstücke – alles irgendwie verwunschene Motive, mit einem kafkaesken Einschlag, sprich: die Protagonisten agieren in einer Scheinrealität bzw. Sur-Realität, die sie nicht durchschauen, genauso wenig wie der Betrachter. Die dargestellten Menschen und Tiere wirken, als seien sie einer Märchenwelt entsprungen, und hätten dabei verpasst, woanders anzukommen. Als stünden sie noch mit einem Bein im Paradies – und hätten doch vergessen, worin ihre ›Schuld‹ oder gar ihre ›Unschuld‹ besteht, die sie verloren haben sollen. Das Paradies mag nebenan liegen, ist aber unerreichbar, und auch die Märchenwelt ist zur Utopie, zum Nichtort geworden.
Eine derartige Seinsverlorenheit hat mit der Postmoderne zu tun, die sich – im Gegenentwurf zur Moderne, die mit der Existenznot und dem Verlust der Mitte, überhaupt mit der Entgrenzung in allen Lebensbereichen bewusst als gegeben umgeht –, Fragen stellt nach dem Woher und Wohin. Damit drängt sich allerdings eine Erkenntnis schmerzhaft nach vorne: Die Welt, von der wir glaubten, sie sei erschlossen und im Sinne des Wortes aufgeklärt, erweist sich als geheimnisvoller, ja unheimlicher denn je. Der Mythos und die Sinnlichkeit kehrten zurück. Anna Maria Schönrock gehört zu einer Generation junger Künstler, die inspiriert sind von den privatmythischen Mehrdeutigkeiten etwa der neuesten Leipziger Schule, doch auch getrieben von einem erstaunlichen Gespür für die reine Peinture. Es gibt sehr figurative Arbeiten, aber gleichermaßen extrem abstrahierte Werke in Schönrocks Schaffen, wobei sie da am stärksten ist, wo sich diese Ebenen mischen. Laufend werden deren Wahrheiten hinterfragt, ertastet – wohl wissend, dass sie im Zeitalter der virtuellen Realität und der medialen Verunsicherungen kaum mehr greifbar sind, von ›der‹ Wahrheit ganz zu schweigen.
Das mag den Glauben an Mythen und Märchen beflügeln. Sie kommen quasi als entrückte Welten auf uns zu – etwa ein Wald, der zwar lichte Stellen nach oben aufweist, aber im Unterholz schwer zugänglich zu sein scheint; oder ein König (»King«), der offenbar entblößt und weitgehend gesichtslos grade noch den Schein einer lächerlichen Krone trägt. Anna Maria Schönrock vermeidet es, Vorder- und Hintergründe klar gegeneinander abzugrenzen: Gerade die handelnden Personen gehen im irrlichternden Umraum verloren. Reiter (»Crossing«, »Two«)sind allenfalls noch in ihrer Silhouette, sichtbar, gemahnen an vergangene Zeiten, und da, wo der Reiter (»Goldener Reiter«) ein wenig Gestalt gewinnt, sitzt er auf einem goldenen Pferd, dessen Sockel und künstliche Färbung die Gruppe als recht unwirkliches Standbild zu erkennen gibt. Genauso fern wirken die jungen Frauen bzw. Mädchen (»Le Bruit«, »Ohne Titel«), die gedankenversunken zu Boden blicken, der kaum halt in einem Grund bietet. Sind schon die beiden Einzelreiter samt Pferd nahezu austauschbar, als handle es sich um Schablonen, so könnten auch die Mädchen Schwestern in Haltung und Erscheinung sein. Die Künstlerin spielt mit der Entpersönlichung, konfrontiert die anonyme Figur mit dem fragwürdigen Pathos ihrer Posen – so in Arbeiten wie »Hero« oder »Celebration«.
Die Brüchigkeit herkömmlicher Realitäten korreliert mit der verblassenden Historizität. Man denke an das sich auflösende »Wappen«, in dem sich möglicherweise eine Landschaft spiegelt. Alles changiert, verändert sich: Metamorphosen des Seins. Zum spielerischen Umgang mit dem Bild kommt auch der mit der Sprache. Veraltete Betitelungen – das Wort »Ziefer« für Federvieh gibt es nur noch in seinem Gegenstück des Unge-ziefers – konkurrieren mit eher jugendsprachlichen Bezeichnungen (»Starboy«), doch immer bleibt etwas Unbehagliches: beim einen Werk ein drastisches Stillleben mit toten Tieren, beim anderen ein schemenhaft flackerndes Antlitz. Der Übergang in surreale Szenarien ist klein, sei es, dass ein Tierkopf (»Head«) so dämonisch daher kommt wie etwa ein Nachtalp des schweizerisch-britischen Sturm-und-Drang-Malers Johann Heinrich Füssli, sei es, dass ein gespenstisch anmutender Tierwärter (»The Transport«) mit zwei Pinguinen im Arm durch die Nacht schreitet.
Wenn sich die Unwirklichkeit im Schönrockschen Schaffen Bahn bricht, die hiesige Welt schon einer fernen, phantastischen gleicht, wundern einen die Raum- und Luftpiloten kaum, die mit aufgesetztem Helm dran erinnern, dass jene Welten nicht den bekannten entsprechen, aber in der Phantasie erobert sein wollen – so will man es in die fast realistisch gemalten Büstenporträts (»You can start again«, »Bowie«) hineinlesen. Hinter dem Visier, so weiß man, kann das Gesicht nicht klar umrissen sein. Aber die umwehrten Köpfe gehen zugleich auf Distanz, im Gegensatz zur Fauna, die in einer Reihe porträthafter Säugetiere (»Äffchen«, »Ape«, »Koala«) den Bereich von Realismus und Abstraktion ad absurdum führen.
Anna Maria Schönrock erschafft eine verzauberte Welt, ohne Zweifel an deren Unwirklichkeit entstehen zu lassen. Indem sie mythische, anekdotische, private Elemente mischt, gewinnt sie klassischen Genres wie der Landschaft, dem Stillleben, dem Porträt oder dem Historien-/Mythenbild neue Impulse ab. In luftigen Wolkenbildern oder auch nahezu abstrakten Naturszenen (»Schnee«) entwickelt die Malerin eine poetische Kraft, die sich in anderen Kontexten durchaus offenen Auges in lapidare Capriccios (»Home«) verflüchtigt oder im Schrecken der Schönheit aufgeht (»Ziefer«).
Text by: Harriet Zilch
Mit einer Fläche von fast 350.000 Quadratkilometern und einer Länge von 2.300 Kilometern gilt das Great Barrier Reef vor der Nordostküste des australischen Bundesstaates Queensland als größtes Korallenriff der Welt. Die UNESCO erklärte es 1981 zum Weltnaturerbe.
Korallen sind Nesseltiere. Zahlreiche Einzeltiere, die Polypen, scheiden Kalk ab und bilden gemeinsam mit anderen kalkabscheidenden Organismen die Korallenriffe. Sie leben mit einzelligen Algen in Symbiose. Steigt die Wassertemperatur, wie in den letzten hundert Jahren geschehen, gerät das hoch empfindliche Ökosystem aus dem Gleichgewicht. Die Temperaturerhöhung löst Stress aus – die Polypen stoßen ihre für ihr eigenes Überleben auf Dauer unentbehrlichen Partner ab. Äußerlich ist das an einem Farbverlust zu erkennen. Die Koralle bleicht, da das durchscheinende Kalkskelett sie weiß erscheinen lässt. Ein Zustand, der die Korallen besonders anfällig für Erkrankungen macht. Eine Zeit lang können sie die Abwesenheit der Algen kompensieren, aber wenn der Stressfaktor nicht nachlässt, stirbt das Tier ab.
Seit vielen Jahren ist auch das einzigartige Great Barrier Reef massiv bedroht. Steigen die Temperaturen weiter ans, wird das Riff nach Meinung von Forscher*innen in etwa 25 Jahren gänzlich abgestorben sein.Die Nachricht über das sukzessive Absterben unserer Korallenriffe hat auch die Künstlerin Anna Maria Schönrock erreicht und gaben den Anlass für eine neue Werkgruppe. So zeigen zwei Großformate eben diese bleichenden Korallenlandschaften: Einzelbilder, die jedoch inhaltlich und malerisch korrespondieren, sich gegenseitig ergänzen und potenzieren.
Trotz dieses sehr konkreten gesellschaftlichen und umweltpolitischen Kontextes sind diese neuen Bilder von Anna Maria Schönrock zunächst einmal hoch ästhetische Landschaften, die von einer großen Sensibilität im Umgang mit den elementaren Fragestellungen der Malerei nach Form und Struktur, nach Farbe und Komposition, nach Räumlichkeit und Flächenaufteilung geprägt sind.
Auch gelingt es der Künstlerin, diese Werke so ausgewogen zu komponieren, dass sie sich einem definierten Bildzentrum gänzlich zu verweigern scheinen. Kein gegenständliches Motiv und keine abstrakte Struktur lenken unsere Aufmerksamkeit an einen konkreten Ort auf der Leinwand. Unsere Blicke schweifen über die vertrauten und zugleich fremdartigen Landschaften, über die amorphen Strukturen, über Korallen, die wie Stalagmiten geisterhaft aus dem Boden wachsen, über Korallenbündel, die an menschliche Organe oder auch Blütenkelche erinnern.
Zugleich bewegen sich diese Landschaften klug zwischen den zentralen malerischen Gegenpolen und vermeintlichen Antagonismen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Die Formationen scheinen immer wieder die Frage aufzuwerfen, an welchem Punkt aus einer wolkigen, amorphen Struktur ein für uns konkret benennbares Objekt wird. An welchem Punkt muss die Komposition motivisch ambivalent sein, muss die Darstellung offenbleiben, um als Bild zu funktionieren? Und an welchem Punkt muss das Motiv konkretisiert werden, damit aus kristallinen Strukturen für uns – beispielsweise – ein bleichendes Korallenriff werden kann.
Auch für andere Bildwerke der Ausstellung können wir diese Fragen formulieren:
An welchem Punkt wird eine Komposition aus verschiedenen Grüntönen zu einem Urwalddickicht, zu subtropischer Vegetation, zu einem verwilderten Regenwald? Wann wird aus einem geisterhaft aus dem Nebel auftauchenden Wesen ein konkret benennbares Tier oder aus einer zunächst geometrisch konstruierten, seltsam kastigen Bildkomposition das Porträt eines Astronauten? Wo verläuft also diese ominöse Demarkationslinie, an der eine abstrakte Form zu einem benennbaren Gegenstand wird? Motivisch und malerisch verharren all diese Bilder, aber auch die ausgestellten Zeichnungen, in einem Schwebezustand, da sich Figuratives und Abstraktes, Deskriptives und Zufälliges, vollendet und unvollendet Scheinendes in einer fragilen Balance permanent zu finden scheinen.
Auch gelingt es der Künstlerin, diese Werke so ausgewogen zu komponieren, dass sie sich einem definierten Bildzentrum gänzlich zu verweigern scheinen. Kein gegenständliches Motiv und keine abstrakte Struktur lenken unsere Aufmerksamkeit an einen konkreten Ort auf der Leinwand. Unsere Blicke schweifen über die vertrauten und zugleich fremdartigen Landschaften, über die amorphen Strukturen, über Korallen, die wie Stalagmiten geisterhaft aus dem Boden wachsen, über Korallenbündel, die an menschliche Organe oder auch Blütenkelche erinnern.
Zugleich bewegen sich diese Landschaften klug zwischen den zentralen malerischen Gegenpolen und vermeintlichen Antagonismen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Die Formationen scheinen immer wieder die Frage aufzuwerfen, an welchem Punkt aus einer wolkigen, amorphen Struktur ein für uns konkret benennbares Objekt wird. An welchem Punkt muss die Komposition motivisch ambivalent sein, muss die Darstellung offenbleiben, um als Bild zu funktionieren? Und an welchem Punkt muss das Motiv konkretisiert werden, damit aus kristallinen Strukturen für uns – beispielsweise – ein bleichendes Korallenriff werden kann.
Auch für andere Bildwerke der Ausstellung können wir diese Fragen formulieren:
An welchem Punkt wird eine Komposition aus verschiedenen Grüntönen zu einem Urwalddickicht, zu subtropischer Vegetation, zu einem verwilderten Regenwald? Wann wird aus einem geisterhaft aus dem Nebel auftauchenden Wesen ein konkret benennbares Tier oder aus einer zunächst geometrisch konstruierten, seltsam kastigen Bildkomposition das Porträt eines Astronauten? Wo verläuft also diese ominöse Demarkationslinie, an der eine abstrakte Form zu einem benennbaren Gegenstand wird? Motivisch und malerisch verharren all diese Bilder, aber auch die ausgestellten Zeichnungen, in einem Schwebezustand, da sich Figuratives und Abstraktes, Deskriptives und Zufälliges, vollendet und unvollendet Scheinendes in einer fragilen Balance permanent zu finden scheinen.
Anna Maria Schönrock spielt dabei die Begriffe Abstraktion und Figuration nicht gegeneinander aus. Vielmehr offenbart ihre Malerei die Unzulänglichkeit dieser für unsere Wahrnehmung von Welt prägenden Pole Figuration/Gegenständlichkeit einerseits und Abstraktion/Ungegenständlichkeit andererseits. Übrig bleibt wie so oft die Frage: Sehen wir, was wir sehen, oder sehen wir, was wir wissen?
Mit all diesen Fragen beschäftigt sich die Künstlerin – langsam tastend – während der oft langwierigen Entstehung ihrer Bildwerke. Ihre Gemälde repräsentieren den malerischen Versuch, offen zu bleiben und jenes zuzulassen, was sich aus dem Malprozess heraus ergibt.
Es ist ein visuelles und sinnliches Verwenden von Bildmotiven, ein Kombinieren und Variieren, ein malerisches Erforschen und Erfinden, ein ergebnisoffener und Richtungswechsel zulassender Prozess. Natürlich besitzt die Künstlerin in diesem Prozess die Kontrolle über das Geschehen auf der Leinwand, jedoch schließt diese Kontrolle keine Option aus, die das Potenzial hat, zu überraschen.
Andere Bilder der Ausstellung, allen voran eine Serie aus sechs kleinformatigen Käferporträts, erinnern an naturkundliche Studien wie beispielsweise die des deutschen Zoologen Ernst Haeckel, der in seinem als Komplettausgabe 1904 veröffentlichten Buch „Kunstformen der Natur“ rund 100 Lithographien verschiedener Organismen veröffentlichte: Schnecken, Flechten, Korallen, Quallen, Krebse, Strahlen-, Nesseltiere und vieles anderes mehr. Seine Zielsetzung war, so schreibt Ernst Haeckel 1904, „weiteren Kreisen Zugang zu den wunderbaren Schätzen der Schönheit zu öffnen, die in den Tiefen des Meeres verborgen oder wegen ihrer geringen Größe nur durch das Mikroskop erkennbar sind. Damit verknüpfe ich, aber auch einen wissenschaftlichen Zweck, den Einblick in den Wunderbau der eigentümlichen Organisationen dieser Formen zu erschließen.“ Seine Publikation beeinflusste in hohem Maße die Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bildete eine Brücke zwischen dieser und der Wissenschaft.
Auch Anna Maria Schönrock interessiert neben den malereiinhärenten Fragen der wissenschaftliche Kontext, und bevor ihre Bilder entstehen, recherchiert sie, sammelt sie, studiert sie Bücher, Faksimile und, wie soll es 2020 anders sein, das Internet. Sie liest über Korallenriffe, exotische Affenarten, Regenwaldvegetation oder auch Käfer, die mit über 350.000 bisher entdeckten Arten die größte Ordnung aus der Klasse der Insekten bilden. Vielleicht erinnern auch deshalb ihre sechs Käferporträts vage an die entomologischen Sammlungen toter und präparierter Insekten, die aus wissenschaftlichem Interesse oder auch ästhetischen Gründen angelegt werden.
Die Reflexion über das Medium Malerei ist den Bildern von Anna Maria Schönrock stets inhärent, jedoch erschöpft sich der Diskurs nicht in reiner Selbstbespiegelung, sondern öffnet sich dem alltäglichen Leben. Wir sehen uns nicht mit einem hermetisch geschlossenen Kosmos konfrontiert, sondern entdecken vertraut erscheinende Repräsentanten unserer Welt. Im Galeriehaus Nord sind diese Repräsentanten vorrangig dem Kosmos der Natur entnommen. Die Begeisterung für die unglaubliche Vielfalt der Natur und die Neugierde für die Mysterien unserer Tier- und Pflanzenwelt verbinden viele Werke dieser Ausstellung. Jedoch geht es nicht nur um die Darstellung ihrer Schönheit, sondern ebenso um die zentrale Frage, wie wir Menschen mit dieser Natur umgehen? Denn keineswegs werden in Anna Maria Schönrocks Ausstellung „Unstable Grounds“ ausschließlich malerische Fragen verhandelt.
Text by : Ann-Kathrin Eickhoff
If one understands figuration and abstraction as two possible poles between which contemporary painterly practices can move, then Anna Maria Schönrock chooses a space in between, a third way, a back door - a form of transition between the two poles that is always in the making. The forms either dissolve through the application of paint - towards abstraction - or peel out through the application of paint - towards figuration. Painting thus becomes an experimental arrangement, similar to a research trip or an experimental arrangement, where the approximate goal is fixed but the path is not yet clear. To describe her practice, she uses the motif of the traveller: 'Explorers have been an inspiration for me. I think of men like Ernest Shackleton, who not only made an incredible journey, but continued with it when he knew it was doomed to failure. …As a painter, I find myself attracted to the incredible risks these explorers, of all types, take. It encourages me to take risks'. (Anna Maria Schönrock)
Es war einmal war einmal
Über das Verschwinden des Bilds im Werk von Anna Maria Schönrock
[Text von Günter Baumann]
Text: Günther Baumann
»Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte [den Diener], was das bedeutete. Er wusste nichts und hatte nichts gehört.«
(Franz Kafka, aus: Der Aufbruch)
Die Welt, die uns Anna Maria Schönrock vor Augen führt, lebt aus dem Geheimnis heraus. Es zu ergründen, verführt uns zwar zu anekdotischen Quellgründen, deren Ursprünge bleiben jedoch rätselhaft: Reiter, Porträts, Tierbilder, Waldstücke – alles irgendwie verwunschene Motive, mit einem kafkaesken Einschlag, sprich: die Protagonisten agieren in einer Scheinrealität bzw. Sur-Realität, die sie nicht durchschauen, genauso wenig wie der Betrachter. Die dargestellten Menschen und Tiere wirken, als seien sie einer Märchenwelt entsprungen, und hätten dabei verpasst, woanders anzukommen. Als stünden sie noch mit einem Bein im Paradies – und hätten doch vergessen, worin ihre ›Schuld‹ oder gar ihre ›Unschuld‹ besteht, die sie verloren haben sollen. Das Paradies mag nebenan liegen, ist aber unerreichbar, und auch die Märchenwelt ist zur Utopie, zum Nichtort geworden.
Eine derartige Seinsverlorenheit hat mit der Postmoderne zu tun, die sich – im Gegenentwurf zur Moderne, die mit der Existenznot und dem Verlust der Mitte, überhaupt mit der Entgrenzung in allen Lebensbereichen bewusst als gegeben umgeht –, Fragen stellt nach dem Woher und Wohin. Damit drängt sich allerdings eine Erkenntnis schmerzhaft nach vorne: Die Welt, von der wir glaubten, sie sei erschlossen und im Sinne des Wortes aufgeklärt, erweist sich als geheimnisvoller, ja unheimlicher denn je. Der Mythos und die Sinnlichkeit kehrten zurück. Anna Maria Schönrock gehört zu einer Generation junger Künstler, die inspiriert sind von den privatmythischen Mehrdeutigkeiten etwa der neuesten Leipziger Schule, doch auch getrieben von einem erstaunlichen Gespür für die reine Peinture. Es gibt sehr figurative Arbeiten, aber gleichermaßen extrem abstrahierte Werke in Schönrocks Schaffen, wobei sie da am stärksten ist, wo sich diese Ebenen mischen. Laufend werden deren Wahrheiten hinterfragt, ertastet – wohl wissend, dass sie im Zeitalter der virtuellen Realität und der medialen Verunsicherungen kaum mehr greifbar sind, von ›der‹ Wahrheit ganz zu schweigen.
Das mag den Glauben an Mythen und Märchen beflügeln. Sie kommen quasi als entrückte Welten auf uns zu – etwa ein Wald, der zwar lichte Stellen nach oben aufweist, aber im Unterholz schwer zugänglich zu sein scheint; oder ein König (»King«), der offenbar entblößt und weitgehend gesichtslos grade noch den Schein einer lächerlichen Krone trägt. Anna Maria Schönrock vermeidet es, Vorder- und Hintergründe klar gegeneinander abzugrenzen: Gerade die handelnden Personen gehen im irrlichternden Umraum verloren. Reiter (»Crossing«, »Two«)sind allenfalls noch in ihrer Silhouette, sichtbar, gemahnen an vergangene Zeiten, und da, wo der Reiter (»Goldener Reiter«) ein wenig Gestalt gewinnt, sitzt er auf einem goldenen Pferd, dessen Sockel und künstliche Färbung die Gruppe als recht unwirkliches Standbild zu erkennen gibt. Genauso fern wirken die jungen Frauen bzw. Mädchen (»Le Bruit«, »Ohne Titel«), die gedankenversunken zu Boden blicken, der kaum halt in einem Grund bietet. Sind schon die beiden Einzelreiter samt Pferd nahezu austauschbar, als handle es sich um Schablonen, so könnten auch die Mädchen Schwestern in Haltung und Erscheinung sein. Die Künstlerin spielt mit der Entpersönlichung, konfrontiert die anonyme Figur mit dem fragwürdigen Pathos ihrer Posen – so in Arbeiten wie »Hero« oder »Celebration«.
Die Brüchigkeit herkömmlicher Realitäten korreliert mit der verblassenden Historizität. Man denke an das sich auflösende »Wappen«, in dem sich möglicherweise eine Landschaft spiegelt. Alles changiert, verändert sich: Metamorphosen des Seins. Zum spielerischen Umgang mit dem Bild kommt auch der mit der Sprache. Veraltete Betitelungen – das Wort »Ziefer« für Federvieh gibt es nur noch in seinem Gegenstück des Unge-ziefers – konkurrieren mit eher jugendsprachlichen Bezeichnungen (»Starboy«), doch immer bleibt etwas Unbehagliches: beim einen Werk ein drastisches Stillleben mit toten Tieren, beim anderen ein schemenhaft flackerndes Antlitz. Der Übergang in surreale Szenarien ist klein, sei es, dass ein Tierkopf (»Head«) so dämonisch daher kommt wie etwa ein Nachtalp des schweizerisch-britischen Sturm-und-Drang-Malers Johann Heinrich Füssli, sei es, dass ein gespenstisch anmutender Tierwärter (»The Transport«) mit zwei Pinguinen im Arm durch die Nacht schreitet.
Wenn sich die Unwirklichkeit im Schönrockschen Schaffen Bahn bricht, die hiesige Welt schon einer fernen, phantastischen gleicht, wundern einen die Raum- und Luftpiloten kaum, die mit aufgesetztem Helm dran erinnern, dass jene Welten nicht den bekannten entsprechen, aber in der Phantasie erobert sein wollen – so will man es in die fast realistisch gemalten Büstenporträts (»You can start again«, »Bowie«) hineinlesen. Hinter dem Visier, so weiß man, kann das Gesicht nicht klar umrissen sein. Aber die umwehrten Köpfe gehen zugleich auf Distanz, im Gegensatz zur Fauna, die in einer Reihe porträthafter Säugetiere (»Äffchen«, »Ape«, »Koala«) den Bereich von Realismus und Abstraktion ad absurdum führen.
Anna Maria Schönrock erschafft eine verzauberte Welt, ohne Zweifel an deren Unwirklichkeit entstehen zu lassen. Indem sie mythische, anekdotische, private Elemente mischt, gewinnt sie klassischen Genres wie der Landschaft, dem Stillleben, dem Porträt oder dem Historien-/Mythenbild neue Impulse ab. In luftigen Wolkenbildern oder auch nahezu abstrakten Naturszenen (»Schnee«) entwickelt die Malerin eine poetische Kraft, die sich in anderen Kontexten durchaus offenen Auges in lapidare Capriccios (»Home«) verflüchtigt oder im Schrecken der Schönheit aufgeht (»Ziefer«).
Zur Ausstellung:
Unstable grounds - Galeriehaus Nord e.V, Nürnberg, 2020
Text: Harriet Zilch
Text by: Harriet Zilch
Mit einer Fläche von fast 350.000 Quadratkilometern und einer Länge von 2.300 Kilometern gilt das Great Barrier Reef vor der Nordostküste des australischen Bundesstaates Queensland als größtes Korallenriff der Welt. Die UNESCO erklärte es 1981 zum Weltnaturerbe.
Korallen sind Nesseltiere. Zahlreiche Einzeltiere, die Polypen, scheiden Kalk ab und bilden gemeinsam mit anderen kalkabscheidenden Organismen die Korallenriffe. Sie leben mit einzelligen Algen in Symbiose. Steigt die Wassertemperatur, wie in den letzten hundert Jahren geschehen, gerät das hoch empfindliche Ökosystem aus dem Gleichgewicht. Die Temperaturerhöhung löst Stress aus – die Polypen stoßen ihre für ihr eigenes Überleben auf Dauer unentbehrlichen Partner ab. Äußerlich ist das an einem Farbverlust zu erkennen. Die Koralle bleicht, da das durchscheinende Kalkskelett sie weiß erscheinen lässt. Ein Zustand, der die Korallen besonders anfällig für Erkrankungen macht. Eine Zeit lang können sie die Abwesenheit der Algen kompensieren, aber wenn der Stressfaktor nicht nachlässt, stirbt das Tier ab.
Seit vielen Jahren ist auch das einzigartige Great Barrier Reef massiv bedroht. Steigen die Temperaturen weiter ans, wird das Riff nach Meinung von Forscher*innen in etwa 25 Jahren gänzlich abgestorben sein.Die Nachricht über das sukzessive Absterben unserer Korallenriffe hat auch die Künstlerin Anna Maria Schönrock erreicht und gaben den Anlass für eine neue Werkgruppe. So zeigen zwei Großformate eben diese bleichenden Korallenlandschaften: Einzelbilder, die jedoch inhaltlich und malerisch korrespondieren, sich gegenseitig ergänzen und potenzieren.
Trotz dieses sehr konkreten gesellschaftlichen und umweltpolitischen Kontextes sind diese neuen Bilder von Anna Maria Schönrock zunächst einmal hoch ästhetische Landschaften, die von einer großen Sensibilität im Umgang mit den elementaren Fragestellungen der Malerei nach Form und Struktur, nach Farbe und Komposition, nach Räumlichkeit und Flächenaufteilung geprägt sind.
Auch gelingt es der Künstlerin, diese Werke so ausgewogen zu komponieren, dass sie sich einem definierten Bildzentrum gänzlich zu verweigern scheinen. Kein gegenständliches Motiv und keine abstrakte Struktur lenken unsere Aufmerksamkeit an einen konkreten Ort auf der Leinwand. Unsere Blicke schweifen über die vertrauten und zugleich fremdartigen Landschaften, über die amorphen Strukturen, über Korallen, die wie Stalagmiten geisterhaft aus dem Boden wachsen, über Korallenbündel, die an menschliche Organe oder auch Blütenkelche erinnern.
Zugleich bewegen sich diese Landschaften klug zwischen den zentralen malerischen Gegenpolen und vermeintlichen Antagonismen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Die Formationen scheinen immer wieder die Frage aufzuwerfen, an welchem Punkt aus einer wolkigen, amorphen Struktur ein für uns konkret benennbares Objekt wird. An welchem Punkt muss die Komposition motivisch ambivalent sein, muss die Darstellung offenbleiben, um als Bild zu funktionieren? Und an welchem Punkt muss das Motiv konkretisiert werden, damit aus kristallinen Strukturen für uns – beispielsweise – ein bleichendes Korallenriff werden kann.
Auch für andere Bildwerke der Ausstellung können wir diese Fragen formulieren:
An welchem Punkt wird eine Komposition aus verschiedenen Grüntönen zu einem Urwalddickicht, zu subtropischer Vegetation, zu einem verwilderten Regenwald? Wann wird aus einem geisterhaft aus dem Nebel auftauchenden Wesen ein konkret benennbares Tier oder aus einer zunächst geometrisch konstruierten, seltsam kastigen Bildkomposition das Porträt eines Astronauten? Wo verläuft also diese ominöse Demarkationslinie, an der eine abstrakte Form zu einem benennbaren Gegenstand wird? Motivisch und malerisch verharren all diese Bilder, aber auch die ausgestellten Zeichnungen, in einem Schwebezustand, da sich Figuratives und Abstraktes, Deskriptives und Zufälliges, vollendet und unvollendet Scheinendes in einer fragilen Balance permanent zu finden scheinen.
Auch gelingt es der Künstlerin, diese Werke so ausgewogen zu komponieren, dass sie sich einem definierten Bildzentrum gänzlich zu verweigern scheinen. Kein gegenständliches Motiv und keine abstrakte Struktur lenken unsere Aufmerksamkeit an einen konkreten Ort auf der Leinwand. Unsere Blicke schweifen über die vertrauten und zugleich fremdartigen Landschaften, über die amorphen Strukturen, über Korallen, die wie Stalagmiten geisterhaft aus dem Boden wachsen, über Korallenbündel, die an menschliche Organe oder auch Blütenkelche erinnern.
Zugleich bewegen sich diese Landschaften klug zwischen den zentralen malerischen Gegenpolen und vermeintlichen Antagonismen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Die Formationen scheinen immer wieder die Frage aufzuwerfen, an welchem Punkt aus einer wolkigen, amorphen Struktur ein für uns konkret benennbares Objekt wird. An welchem Punkt muss die Komposition motivisch ambivalent sein, muss die Darstellung offenbleiben, um als Bild zu funktionieren? Und an welchem Punkt muss das Motiv konkretisiert werden, damit aus kristallinen Strukturen für uns – beispielsweise – ein bleichendes Korallenriff werden kann.
Auch für andere Bildwerke der Ausstellung können wir diese Fragen formulieren:
An welchem Punkt wird eine Komposition aus verschiedenen Grüntönen zu einem Urwalddickicht, zu subtropischer Vegetation, zu einem verwilderten Regenwald? Wann wird aus einem geisterhaft aus dem Nebel auftauchenden Wesen ein konkret benennbares Tier oder aus einer zunächst geometrisch konstruierten, seltsam kastigen Bildkomposition das Porträt eines Astronauten? Wo verläuft also diese ominöse Demarkationslinie, an der eine abstrakte Form zu einem benennbaren Gegenstand wird? Motivisch und malerisch verharren all diese Bilder, aber auch die ausgestellten Zeichnungen, in einem Schwebezustand, da sich Figuratives und Abstraktes, Deskriptives und Zufälliges, vollendet und unvollendet Scheinendes in einer fragilen Balance permanent zu finden scheinen.
Anna Maria Schönrock spielt dabei die Begriffe Abstraktion und Figuration nicht gegeneinander aus. Vielmehr offenbart ihre Malerei die Unzulänglichkeit dieser für unsere Wahrnehmung von Welt prägenden Pole Figuration/Gegenständlichkeit einerseits und Abstraktion/Ungegenständlichkeit andererseits. Übrig bleibt wie so oft die Frage: Sehen wir, was wir sehen, oder sehen wir, was wir wissen?
Mit all diesen Fragen beschäftigt sich die Künstlerin – langsam tastend – während der oft langwierigen Entstehung ihrer Bildwerke. Ihre Gemälde repräsentieren den malerischen Versuch, offen zu bleiben und jenes zuzulassen, was sich aus dem Malprozess heraus ergibt.
Es ist ein visuelles und sinnliches Verwenden von Bildmotiven, ein Kombinieren und Variieren, ein malerisches Erforschen und Erfinden, ein ergebnisoffener und Richtungswechsel zulassender Prozess. Natürlich besitzt die Künstlerin in diesem Prozess die Kontrolle über das Geschehen auf der Leinwand, jedoch schließt diese Kontrolle keine Option aus, die das Potenzial hat, zu überraschen.
Andere Bilder der Ausstellung, allen voran eine Serie aus sechs kleinformatigen Käferporträts, erinnern an naturkundliche Studien wie beispielsweise die des deutschen Zoologen Ernst Haeckel, der in seinem als Komplettausgabe 1904 veröffentlichten Buch „Kunstformen der Natur“ rund 100 Lithographien verschiedener Organismen veröffentlichte: Schnecken, Flechten, Korallen, Quallen, Krebse, Strahlen-, Nesseltiere und vieles anderes mehr. Seine Zielsetzung war, so schreibt Ernst Haeckel 1904, „weiteren Kreisen Zugang zu den wunderbaren Schätzen der Schönheit zu öffnen, die in den Tiefen des Meeres verborgen oder wegen ihrer geringen Größe nur durch das Mikroskop erkennbar sind. Damit verknüpfe ich, aber auch einen wissenschaftlichen Zweck, den Einblick in den Wunderbau der eigentümlichen Organisationen dieser Formen zu erschließen.“ Seine Publikation beeinflusste in hohem Maße die Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bildete eine Brücke zwischen dieser und der Wissenschaft.
Auch Anna Maria Schönrock interessiert neben den malereiinhärenten Fragen der wissenschaftliche Kontext, und bevor ihre Bilder entstehen, recherchiert sie, sammelt sie, studiert sie Bücher, Faksimile und, wie soll es 2020 anders sein, das Internet. Sie liest über Korallenriffe, exotische Affenarten, Regenwaldvegetation oder auch Käfer, die mit über 350.000 bisher entdeckten Arten die größte Ordnung aus der Klasse der Insekten bilden. Vielleicht erinnern auch deshalb ihre sechs Käferporträts vage an die entomologischen Sammlungen toter und präparierter Insekten, die aus wissenschaftlichem Interesse oder auch ästhetischen Gründen angelegt werden.
Die Reflexion über das Medium Malerei ist den Bildern von Anna Maria Schönrock stets inhärent, jedoch erschöpft sich der Diskurs nicht in reiner Selbstbespiegelung, sondern öffnet sich dem alltäglichen Leben. Wir sehen uns nicht mit einem hermetisch geschlossenen Kosmos konfrontiert, sondern entdecken vertraut erscheinende Repräsentanten unserer Welt. Im Galeriehaus Nord sind diese Repräsentanten vorrangig dem Kosmos der Natur entnommen. Die Begeisterung für die unglaubliche Vielfalt der Natur und die Neugierde für die Mysterien unserer Tier- und Pflanzenwelt verbinden viele Werke dieser Ausstellung. Jedoch geht es nicht nur um die Darstellung ihrer Schönheit, sondern ebenso um die zentrale Frage, wie wir Menschen mit dieser Natur umgehen? Denn keineswegs werden in Anna Maria Schönrocks Ausstellung „Unstable Grounds“ ausschließlich malerische Fragen verhandelt.
Text by : Ann-Kathrin Eickhoff
If one understands figuration and abstraction as two possible poles between which contemporary painterly practices can move, then Anna Maria Schönrock chooses a space in between, a third way, a back door - a form of transition between the two poles that is always in the making. The forms either dissolve through the application of paint - towards abstraction - or peel out through the application of paint - towards figuration. Painting thus becomes an experimental arrangement, similar to a research trip or an experimental arrangement, where the approximate goal is fixed but the path is not yet clear. To describe her practice, she uses the motif of the traveller: 'Explorers have been an inspiration for me. I think of men like Ernest Shackleton, who not only made an incredible journey, but continued with it when he knew it was doomed to failure. …As a painter, I find myself attracted to the incredible risks these explorers, of all types, take. It encourages me to take risks'. (Anna Maria Schönrock)